Franz Xaver Bronners Reisemittel und Reiseinfrastruktur






Franz Xaver Bronners Reisemittel und Reiseinfrastruktur






Franz Xaver Bronners Reisemittel und Reiseinfrastruktur

Karte: https://qgiscloud.com/BeyerThoma/Bronner_Verkehrsmittel/

 

Franz Xaver Bronners Beschreibung seiner Reisen von Aarau in der Schweiz zu seiner Professur in Kazan’ an der Mittleren Wolga im Jahre 1810 und zurück im Jahre 1817 liegt sowohl als Niederschrift, die während der Reise angefertigt wurde, wie auch in ausgearbeiteter Form vor; letztere reicht allerdings nur von Aarau bis Sankt Petersburg. Bronner verzeichnet dabei außerordentlich viele Details, was sich unter anderem an der großen Zahl an Orten und Personen, die er erwähnt, festmachen lässt.

In diesem Beitrag wollen wir auf die Verkehrsmittel dieses Reisenden eingehen sowie auf die Gründe, warum er sie wählte.

Bronner musste auf dem Hinweg im Jahr 1810 über Sankt Petersburg reisen, weil nach etablierter Regel die ausländischen Spezialisten, die nach Russland berufen wurden, ihr Gehalt vom Tag ihrer Ankunft in der Hauptstadt an bezogen. Der Weg entlang der Ostseeküste war in der Tat auch der am häufigsten benutzte, selbst für Reisen von und nach Wien oder Italien, und das auch schon zu Zeiten, als Moskau noch die Hauptstadt war und Russland nicht einmal einen Ostseezugang besaß. Die schnelle und komfortable Reise mit dem Schiff, üblicherweise von Lübeck aus, für die man etwa 14 Tage veranschlagen musste, schied allerdings im Jahr 1810 wegen des Seekriegs zwischen England und Frankreich aus; darüber herrschte Konsens. Das hatte weitreichende Konsequenzen für Bronner, der eine große Bibliothek und eine Naturaliensammlung besaß und insbesondere seine Bücher an die neugegründete und noch nicht gut ausgestattete Universität in Kazan an der Mittleren Wolga sogar ausdrücklich mitbringen sollte. Wäre ihm der Seeweg nicht verschlossen gewesen, so hätte er mit seinem großen Gepäck auch verhältnismäßig kostengünstig direkt von Aarau aus auf der Aare1 und dann auf dem Rhein mit dem Schiff fahren können. Die Rheinroute nahm beispielsweise im Jahr 1741 von Memmingen aus, das weit ungünstiger zum Rhein lag, der Maler Elias Grimmel, den Jakob Stählin für die St. Petersburger Akademie der Wissenschaften angeworben hatte. Er sollte unter anderem Stählins Bruder sowie allerhand Hausrat und Malutensilien mitbringen, die in St. Petersburg deutlich teurer oder gar nicht zu beschaffen waren.2 Da Bronner am 15. Juli 1810 aufbrach, hätte er die Schiffsreise auch noch vor dem Ende der Saison im September zurücklegen können. So aber war er gezwungen, einen großen Teil seiner Bibliothek mit Verlust zu verkaufen, die übrigen Bücher sowie die Naturalien in fünf Kisten einer Zürcher Spedition zu übergeben, die sie – nicht anders als heute – mit Hilfe mehrerer Partnerfirmen über Leipzig, Königsberg und Memel nach Sankt Petersburg beförderte, also ebenfalls auf der baltischen Landroute. Unterwegs sprach Bronner bei den jeweiligen Spediteuren vor, nur um zu erfahren, dass seine Kisten noch nicht angekommen seien und man sich aber um sie kümmern werde. In Sankt Petersburg nahm das Gepäck ein aus dem Glarus stammender Schweizer Kaufmann namens Leonhard Weber in Empfang, der offenbar zu dieser Zeit ein etabliertes Glied dieser Transportkette aus der Schweiz war, ebenso wie zumindest auch die Memeler Firma Lorck-Consentius.3 Die Trennung von schwerem Gepäck und Handgepäck war also damals schon etabliert, und Bronner hatte das letztere in einem sogenannten Mantelsack4, heute würde man wohl sagen: Seesack, verstaut. Damit war er für jedes Verkehrsmittel der damaligen Zeit gerüstet.

Bis Basel mietete sich Bronner eine Kutsche, weil er einen großen Bogen nahm, um in Maschwanden und Zürich Abschiedsbesuche zu machen und in Wildegg einen Kaufmann aufzusuchen, der ihm einen Wechsel einlösen sollte.

In Basel verpasste Bronner am 18. Juli 1810 die Postkutsche nach Frankfurt  um gerade einmal zwei Stunden. Er hatte sich auf mündliche Aussagen verlassen; allerdings verzeichneten selbst die schon sehr voluminösen Posthandbücher der Zeit nur selten die genauen Abfahrtszeiten. Wir haben übrigens keinerlei Hinweise, dass Bronner vor der russischen Grenze überhaupt ein solches Handbuch mit sich führte.5 Er teilt uns in Basel mit, dass er den Weg über Frankfurt, Weimar, Leipzig, Berlin, Königsberg wähle, „theils weil ich hoffte, in Städten, wo gelehrte Anstalten oder Universitäten blühten, mit geschickten Männern interessante Bekanntschaften anzuknüpfen, und allerley neue, besonders physikalische Werkzeuge zu sehen, theils weil ich mich ganz besonders freute, den Vater Wieland und seine Familie wieder zu sehen.“ Weimar, wo Wieland wohnte, war zweifellos Bronners wichtigstes Zwischenziel. Leider erfahren wir nicht, welchen Weg er verwarf.

Bronner fuhr also bis Frankfurt mit einem dänischen Baron in einem „Glaswagen“ und von dort dann allein mit einem anderen „Glaswagen“, dessen Besitzer aus Leipzig stammte, bis nach Berlin. Wir haben von Basel ab Bronners Weg mit den Routen verglichen, die in den Posthandbüchern der Zeit angegeben sind, und auf der Karte zu diesem Beitrag mit dünnen Punktierungen die (aus unterschiedlichen Handbüchern übernommenen) passenden Postrouten sowie mit gelben Dreiecken die Poststationen eingetragen. Außerdem sind mit roter Schrift wichtige Verrichtungen Bronners wie Essen, Übernachten und Pferdefüttern angegeben. Mit kleinen roten Dreiecken sind dagegen die Orte markiert, die Bronner als Wegpunkte erwähnt; bei Überlagerung erscheinen dann die Poststationen weiß. Als Ergebnis zeigt sich, dass Bronner, obwohl er mit Pferden und Wagen unabhängig war, doch genau den Poststraßen folgte und meistens an Orten mit Poststationen übernachtete, speiste oder seinen Kutscher die Pferde füttern ließ. In größeren Städten war er natürlich frei, in einem Gasthof seiner Wahl, wenn er nur nicht belegt war, abzusteigen. Der Kutscher dürfte in einer Fuhrmannsherberge übernachtet haben; da hiermit bis zur russischen Grenzen aber keine außergewöhnlichen Ereignisse verbunden waren, berichtet Bronner nicht davon. In kleinen Orten dürfte er keine Wahl gehabt haben, als bei den Gasthöfen Halt zu machen, die auch die Posthalterei betrieben.

Von Berlin bis Königsberg verließ sich Bronner dann auf die Post. In der regulären Postkutsche, die meist mit „Beiwagen“ fuhr, reiste allerdings eine Gruppe preußischer Soldaten mit, die sich so schlecht benahmen, dass Bronner mit einigen Reisebegleitern streckenweise die „Extrapost“ benutzte. Die Gruppe musste sich dabei selbst um die Beschaffung des Wagens kümmern, der oft offen und ungefedert ausfiel, also höchst unkomfortabel war; an den Poststationen nahm man nur die Pferde in Anspruch.

Nicht immer, das muss man sagen, geben die Posthandbücher den ganz aktuellen Stand der üblichen Postrouten wieder. So verzeichnet das Handbuch von 1809 die Route von Berlin nach Marienwerder ab Friedeberg (Dobiegniew) noch weiter südlich über Driesen (Drezdenko), Filehne (Wieleń), Schneidemühl (Piła), Bromberg (Bydgoszcz), Kulm (Chełmno) und Graudenz (Grudziądz). Die von Bronner erwähnten Stationen werden teilweise auf anderen Postrouten genannt, teilweise erscheinen sie in den Handbüchern gar nicht.6 Erst in einem Handbuch von 1816 wird Bronners Route in einer Fußnote als Alternative zur südlichen Hauptroute genannt.7

Bei der Weiterreise von Königsberg nach Memel begannen zu jener Zeit die Unannehmlichkeiten. Johann III. Bernoulli, der diese Strecke im Jahre 1777 bereiste, bringt es folgendermaßen auf den Punkt: „Den langen Weg von 53 Meilen von Königsberg nach Mietau, mit einem Fuhrmann allein zu machen, und dafür 28 Ducaten zu bezahlen, war mir eben so wenig gelegen, als auf einem unbedeckten Fuhrwerke mit Extrapost zu fahren. Die gewöhnliche Post kam gar nicht in Anschlag, weil sie[,] die Unbequemlichkeiten bey Seite gesetzt, einen grossen Umweg veranlasset, und mich nicht einmal bis an die curländischen Gränzen gebracht hätte.Bernoulli reiste schließlich mit Kaufleuten, und zwar für seine Begriffe im Schneckentempo. Die Kaufleute nahmen dann in der Gegend des heuten Zelenograd ein Schiff über das Kurische Haff bis Memel.8 Noch zu Bronners Zeit empfahl das Posthandbuch von 1809 ebendiese Route, wobei damals der Transfer mit dem Wagen von Königsberg bis Schaken (Kaširskoe) schon von dem Schiffer organisiert wurde, der die Reisegruppe dann weiter über das Kurische Haff beförderte. Von der Reise mit der Extrapost über die Kurische Nehrung wurde unverhohlen abgeraten, und die reguläre Postkutsche über Tilsit, auf die Bernoulli anspielt, wird nur an dritter Stelle erwähnt.9

Von Memel aus gab es eigentlich längst eine direkte Poststraßenverbindung weiter nach Mitau und St. Petersburg. Warum er sich trotzdem entschied, sich bis Riga einem privaten Fuhrmann anzuvertrauen, ist nicht klar. Er folgte zunächst der Poststraße nach Mitau, die auch auf der handlichen Streifenkarte verzeichnet war, die er in Leipzig gekauft hatte, aber er bog dann beim Jetzenkrug, der auch Poststation war, plötzlich nach Nordwesten in Richtung Libau ab. Die Postroute wäre nordöstlich über Bartau (Bārta) und Tadaiken (Tadaiķi) weitergegangen.10 Möglicherweise wollte Bronner die im 18. Jahrhundert aufstrebende, aber mit dem Beginn der Napoleonischen Kriege in eine wirtschaftliche Krise geratene Hafenstadt11 einfach besichtigen. Indessen hätte es dorthin vom Grenzort Polangen aus auch eine direkte, nahe am Meer verlaufende Straße über Wirgen gegeben, die wohl die ältere, traditionelle Verbindung nach Mitau war und 1778 auch beispielsweise von Bernoulli benutzt wurde, der das inzwischen abgegangene Wirgen als „ziemlich großen Ort“ bezeichnete, aber sehr wohl wusste, dass er nicht auf der Hauptpostroute reiste, die übrigens schon im 17. Jh. eingerichtet worden war.12 Bronner kaufte allerdings erst in Riga ein handliches französischsprachiges Posthandbüchlein, das sich noch heute in der Kantonsbibliothek Aargau befindet und beide Alternativen angibt, also die Küstenroute über Libau und die direkte über Ober-Bartau und Tadaiken.13 Auf seiner Reise durch die baltischen Gouvernements Russlands orientierte sich Bronner, wie auch in seinem Reisebericht unmittelbar erkennbar ist, in erster Linie an den Krügen, d.h. an den Gasthöfen, und weniger an den Poststationen.

In Riga wurde Bronner durch verschiedene Einladungen, vor allem aber wegen der Durchreise der Kaiserin mit ihrem zahlreichen Gefolge bis zum 4. September 1810 aufgehalten. Er erklärt uns bedauerlicherweise nicht, warum er sich ausgerechnet jetzt, trotz zahlreicher warnender Hinweise, in den Kopf setzte, seinen Weg mit Postpferden (und leider auch ohne Angaben zu dem Gefährt, in das er sich setzte) fortzusetzen. Weil das kaiserliche Gefolge vor ihm abgereist war, gab es unterwegs an den Poststationen Pferde oft entweder nur zum doppelten Preis oder mit Verzögerung oder auch gar nicht, so dass Bauernpferde aushelfen mussten.

In St. Petersburg, wo er am 12. September 1810 eintraf, scheint sich Bronner trotz der Weitläufigkeit der Stadt hauptsächlich zu Fuß fortbewegt zu haben, auch wenn er dort erhebliche Schwierigkeiten mit der Orientierung hatte. Aber die knapp zwei Kilometer vom Gasthof zum Gouverneur“, wie Bronner schreibt, „um wegen meines Passes Auskunft zu geben“, legte er im Fahrzeug zurück: „Zum ersten Male bestieg ich da die Droschke eines Iswostschiks, der mich nach Anleitung des Wirthes zur rechten Stelle brachte.In der Tat mussten auswärtige Arbeitskräfte in der Stadt unverzüglich von ihrem Gastgeber bzw. Wirt unter Abgabe des Passes beim Adresskontor, das dem Militärgouverneur unterstand, gemeldet werden. Damit sollte die Beschäftigung von Personen „nicht billigenswerten Benehmens“ in der Stadt verhindert werden. Ausländer unterlagen sogar einer doppelten, aber etwas höflicher erscheinenden Erfassung: Sie wurden auf gleiche Weise zunächst beim zuständigen Quartalsaufseher registriert und mussten am nächsten Tag persönlich beim Militärgouverneur vorsprechen, der sie durchaus auch selbst empfangen konnte.14 Für Bronner war es also wichtig, standesgemäß vorzufahren, denn er hatte schon in Riga vermerkt, dass sein Status als Professor bei hohen Beamten hilfreich war.

Die Weiterreise nach Kazan’ wollte Bronner mit dem Schweizer Kaufmann Fridolin Jenni aus dem Glarus, der von Kazan’ aus einen Getränkehandel betrieb, auf dem Schiff zurücklegen. Jenni war ein Schwager seines Landsmanns Leonhard Weber, der in St. Petersburg Bronners Kisten in Empfang nehmen sollte und gerne auch die Weiterbeförderung nach Kazan’ übernahm. Während seines Aufenthalts in St. Petersburg wohnte Jenni in Webers neuem Haus am noblen Nevskij Prospekt.15 Da Bronner noch mit dem Kurator der Kazan’er Universität, Rumovskij, zu verhandeln hatte, damit das Ministerium die aus dem Ruder gelaufenen zusätzlichen Kosten für den Gepäcktransport übernahm, vereinbarten die beiden, sich in Tichvin an der Wasserscheide zwischen dem Ostsee- und dem Wolgagewässersystem zu treffen.

Jennis Rumfässer wurden übrigens in St. Petersburg auf Schiffe verladen und auf der Neva bis Schlüsselburg, dann weiter auf dem Ladogakanal bis Sjas’kie Rjadki und von dort schließlich die Flüsse Sjas’ und Tichvinka aufwärts transportiert. In Tichvin war zwar ein Kanal, der die beiden Gewässersysteme miteinander verbinden sollte, gerade im Bau. Aber einstweilen mussten die Waren von Tichvin ab noch 90 km mit dem Fuhrwerk nach Somino am Oberlauf des Flüsschens Sominka befördert werden, das dann schon zur Wolga hin entwässerte.

Bronner selbst mietete am 21. September 1810 bis Schlüsselburg, wo die Neva aus dem Ladogasee herausfließt, einen leibeigenen Kutscher, der aber schon auf halbem Weg in der Poststation Pella nicht mehr weiterfahren wollte. Der Weg wurde also mit dem Postwagen fortgesetzt, ebenso auch dann von Tichvin ab zusammen mit Fridolin Jenni. Bronner orientierte sich jetzt ganz an den Poststationen, wie auf unserer Karte unschwer zu erkennen ist. Allerdings hatte er am Flusse Sjas’ Schwierigkeiten sich zurechtzufinden: „Die Route, die ich hier ganz anders fand, als in der Karte, zu bestimmen, war uns äußerst schwer.Bronner hatte in St. Petersburg eine „Karte von Russland“ gekauft. Sie lässt sich ziemlich sicher als die „Straßenkarte des Russischen Reiches“ von 1809 identifizieren, u.a. weil sie, wie Bronner an anderer Stelle vermerkt, die Abstände zwischen den Poststationen angibt und die Entfernung von St. Petersburg nach Tichvin mit derjenigen übereinstimmt, die Bronner von der Karte ablas.16 Er hielt bei der Poststation des Ortes Sjas’ bzw. Sjas’kie Rjadki an, die er als bei der Einmündung des Ladogakanals in den Fluss Sjas’ unweit von dessen Mündung in den Ladogasee gelegen beschreibt. Die Karte von 1809 und ebenso Bronners französischsprachiges Posthandbuch von 1805 nennen hier aber eine Poststation Pul’nica, nach einem Dorf, das schon nach der Abzweigung des Weges in Richtung Tichvin am Ende einer über 4,5 km langen und auffallend gerade nach Süden verlaufenden Straße bei der Fähre über die Sjas’ lag, wo Bronner auf der Weiterreise dann auch durchkam, ohne aber eine Poststation zu erwähnen. Auch andere Posthandbücher der Zeit nennen bei Sjas’kie Rjadki die Station Pul’nica, bei der sich angeblich die Wege nach Tichvin im Südosten und nach Olonec und Petrozavodsk im Nordosten scheiden sollten, was so nicht korrekt sein kann. Am ehesten ist anzunehmen, dass die Poststation verlegt worden war und sich dies erst zehn Jahre später dann tatsächlich auch in den Posthandbücher und Karten spiegelte. Das gleiche gilt für die folgenden Stationen bis Tichvin, die erst 1820 und 1822 in Handbüchern und Karten so auftauchen wie sie bei Bronner erwähnt werden – freilich auch mit Hörfehlern. So bezeichnet er die Station L’zi als „Jesich“, offensichtlich von „vo L’zich“, was bedeutet „in L’zi“ und auszusprechen ist als val’zich, mit der Betonung auf der letzten Silbe. Bronners Beschreibung der Zustände an den Poststationen mit abwesenden oder betrunkenen Aufsehern lässt die Gründe für die Fehler in den Nachschlagewerken erahnen.17

Bronner hatte zuletzt in Novaja Ladoga geschlafen und war die mehr als 110 km lange Strecke durchgefahren; er kam demzufolge in den frühen Morgenstunden des 24. September 1810 völlig übernächtigt, mehrfach bestohlen und dementsprechend genervt in Tichvin an.

Die Reise auf den anfangs sehr kleinen, später zur Wolga hin immer breiteren Gewässern bis Kazan’, die vom 30. September bis zum 22. Oktober 1810 dauerte, forderte Bronner keine weiteren Organisations- und Orientierungsleistungen mehr ab. Die Abenteuer, die dort dennoch bestanden werden wollten, sind Thema für eine andere Darstellung.

 

Am 26. September 1817 trat Bronner, inzwischen mit reichlichen Russland-Erfahrungen, aber nach wie vor sehr mäßigen Russischkenntnissen ausgestattet, die Rückreise nach Aarau an, wo ihm die Position des Leiters des inzwischen vom Staat übernommenen Kantonsgymnasiums versprochen worden war. Das Gepäck hatte er wieder einer Spedition übergeben, die es erneut über St. Petersburg, also auf der baltischen Route, aber diesmal vermutlich auf dem Seeweg, transportieren ließ. Bronner selbst reiste auf dem etwas kürzeren und direkteren Weg über Moskau, die Ukraine, Österreich und Süddeutschland. Die Gründe gibt er nicht an. Aus seinem Besuchsprogramm vor allem in Wien, Augsburg und in seinem Heimatstädtchen Höchstädt ergibt sich allerdings, dass er vor allem alte Bekannte und Verwandte treffen und in Wien auch einen ehemaligen Lehrer des Kantonsgymnasium zur Rückkehr bewegen wollte.

Bronner hatte sich mit einem eigenen Wagen ausgestattet und bekam bis Moskau einen „Postillion“ zu Verfügung gestellt, d.h. einen offenbar nicht ganz niedrigrangigen Postbediensteten, der die Postpferde führte. Wenn private Pferde angemietet werden mussten, kam für diese noch ein anderer Kutscher auf den Bock. Dies war nicht ganz selten der Fall, u.a. abermals wegen der Reise einer „allerhöchsten Person“, diesmal des Kaisers Alexanders I. selbst, der zu Truppenmanövern gekommen war. Bronners insgesamt deutlich knapperer Bericht orientiert sich deutlich an den Poststationen, selbst wenn er sie nicht immer beim Namen nennt. Nur wenn er mit Mietpferden unterwegs war, konnten Poststationen unerwähnt bleiben, beispielsweise die letzten beiden vor Tula. Man kann vermuten, dass Bronner immer noch sein altes französischsprachiges Postverzeichnis von 1805 und die Karte von 1809 verwendete, denn ein neueres einschlägiges Handbuch findet sich nicht in den Beständen der Kantonsbibliothek. Vor allem zur österreichischen Grenze hin löst Bronners Wegewahl manchmal Verwunderung aus, am meisten, als er von Dubno aus nicht den in den aktuellen russischen Postverzeichnissen genannten direkten Weg zur Grenzstadt Radziwiłłów/Radyviliv über „Коrčma Komarovskaja‟ wählte, sondern den Umweg über Kremeneceinschlug, wie es die Karte von 1809 auch nahelegt, dann aber doch bei Verba zur Poststation Grjada abbog, die an der Route Kremenec’-Radyviliv lag, und Kremenec’ links liegen ließ. Vermutlich war die Station Verba inzwischen dem Besitzer eines Wirtshauses („Коrčma‟) übergeben und dabei in „Korčma Komarovskaja‟ umbenannt worden, und die neue, direkte Route von dort nach Radyviliv war entweder Bronner nicht bekannt oder noch gar nicht in Betrieb.18

Nach einem krimireifen Grenzübertritt bei Radyviliv am 23. Oktober 1817 verkaufte Bronner in der österreichischen Grenzstadt Brody seinen Wagen und setzte die Heimreise mit Mietkutschern fort, die ihn meistens sehr lange Strecken beförderten. Bronner war also jetzt nicht mehr auf Poststationen angewiesen; er erwähnt die Postort trotzdem meistens. Bis Radymno fuhr er auf einer Strecke, die eigentlich erst 1819 für die Route Brody-Lemberg-Krakau in den Posthandbüchern als zweite Variante auftaucht. Früher verlief die Poststraße laut den Handbüchern deutlich weiter nördlich.19 Man kann also annehmen, dass auch hier in Österreichisch-Galizien die Postverzeichnisse nicht ganz mit den Realitäten übereinstimmten. Bezeichnend ist, dass dies gerade beiderseits der Grenze der Fall war. Bronner lässt trotz allem auch in Österreich sowie später in den süddeutschen Staaten nach wie vor kaum einen Postort unerwähnt.

Die Beschreibung der Rückreise endet in Zürich, wo Bronner zahlreiche Freunde und Bekannte hatte, mit der Schilderung des Besuchs bei seinem Freund Hans Caspar Tobler, der zu diesem Zeitpunkt Pfarrer in Stäfa am Zürchersee war. Man hatte ihm für die Fahrt einen privaten Wagen mit Pferden zu Verfügung gestellt.

 

Bei der Wahl der Verkehrsmittel auf Bronners Reise durch verschiedene Länder fällt also auf, dass er sich immer an die mit der Post verbundene Infrastruktur aus mehr oder weniger gut ausgebauten Straßen, Gasthöfen und Pferdewechselstationen hielt, auch wenn er die fahrende Post selbst selten benutzte. Offenbar war selbst in Russland die Postinfrastruktur am Anfang des 19. Jh. schon das Rückgrat der Personenbeförderung. Dass Karten und Handbücher nicht immer, aber gemessen an der Masse der zu verarbeitenden Informationen doch erstaunlich oft, die aktuellen Realitäten wiedergaben, ist eine Erfahrung, die jeder Benutzer eines modernen Navis nachvollziehen kann, wenn er plötzlich vor einer gesperrten Straße steht.

 

Anmerkungen:

1Zur Schifffahrt auf der Aare siehe Hasler 1977 – Die ehemalige Schiffahrt.

2РНБ Отдел рукописей, Ф. 871, ед. хр. 289: Stählin an Otto Hubert in Amsterdam, 12./23.5.1741; Zusammenfassung eines Briefes Stählins an Grimmel in Memmingen, dat. 14./25.5.1741.

3Der fast gleichzeitig mit Bronner von Yverdon nach St. Petersburg reisende reformierte Pfarrer und Pädagoge Johannes von Muralt sollte von Leonhard Weber einen Wechsel für die Reisekosten bekommen und in Memel bei der Firma „Lor. Lork & Comp.“, die sich damals schon im Besitz des Schwiegersohns Friedrich Ludwig Consentius befand, seinen Pass für Russland in Empfang nehmen. Siehe Dalton 1876 – Johannes von Muralt, S. 71. Zur Familie Lorck-Consentius siehe Sembritzki 1918 – Geschichte des Kreises Memel, S. 296; Lorck-Schierning 1949 – Die Chronik der Familie Lorck, S. 143, 144, 150.

4Zur Beschreibung eines Mantelsacks siehe Stw. Mantelsack in: Krünitz: Oekonomische Encyklopädie.

5Am aktuellsten war damals Fick 1809 – Neues Handbuch für Reisende jeder Gattung, das auch Hinweise auf Sehenswürdigkeiten enthält, aber mit über 500 Seiten sehr schwer war. Es gibt zahlreiche Hinweise, dass Bronner es nicht besaß. Etwas älter und mit 340 Seiten nicht ganz  so dick war Allgemeines Post- und Reise-Handbuch 1805.

6Fick 1809 – Neues Handbuch für Reisende jeder Gattung, S. 356–357.

7Allgemeines Post- und Reise-Handbuch 1816, S. 20 und Fußnote.

8Bernoulli 1779 – Johann Bernoulli’s, S. 195–196 (Zitat), 196–200.

9Fick 1809 – Neues Handbuch für Reisende jeder Gattung, S. 362–363.

10Вистицкий 1804 – Указатель дорог Российской Империи, Bd. 33, s. 81; Postes de Russie 1805, S. 115–117; Fick 1809 – Neues Handbuch für Reisende jeder Gattung, S. 364.

11Wegner 1898 – Geschichte der Stadt Libau, S. 112–113.

12Allgemeines Post- und Reise-Handbuch 1805, S. S. 21 stellt diese über den heute abgegangenen, nördlich von Jūrmalciems gelegenen Ort Würgen oder Wirgen verlaufende Route als den normalen Weg von Memel nach Mitau dar, was aber wegen der Hinweise von Bernoulli so nicht stimmen kann; vgl. Bernoulli 1779 – Johann Bernoulli’s, S. 216 – 217, 222. Zur Einrichtung dieser Postroute: Pētersone 2011 – Hercogistes pasta ceļš Skrunda–Kuldīga–Ventspils; Pētersone 2003 – Hercogs Ernsts Johans Bīrons.

13Postes de Russie 1805, bsd. 115–117.

14Высоцкий 1903 – С.-Петербургская столичная полиція и градоначальство, S. 88–94; фон Реймерс 1809 – Санктпетербургская адресная книга на 1809, S. VIII.

15Zu Jenni (auch: Jenny) siehe Kubly-Müller (Hg.) 1929 – Die Jenny-Familien im Kanton Glarus, S. 261, 287–287; zu Leonhard Weber und der von ihm begründeten Kaufleutedynastie in Russland: Rauber 1985 – Schweizer Industrie in Russland, S. 34–37; Feller-Vest 2013 – Weber, Leonhard. Zu Webers Haus: Дом Л. Вебера.

16Дорожная Карта Российской Империии 1809.

17Siehe die Eintragungen in Вистицкий 1804 – Указатель дорог Российской Империи, Bd. 1, S. 61; Postes de Russie 1805; S. 114–115; Пядышев 1818–1820 – Путеводитель по всей Российской Империи, Bd. 1, S. 7. Interessanterweise verzeichnet der 1822 erschienene „Geographische Atlas des Russischen Reiches“ desselben Autors die Poststationen in diesem Abschnitt dann schon in der neuen Ordnung (Пядышев 1822 – Географический атлас Российской империи), so wie vor ihm bereits Орлов 1820 – Почт-словарь российского государства, S. 662.

18Дорожная Карта Российской Империи 1809; die neue Postroutenführung: Пядышев 1818–1820 – Путеводитель по всей Российской Империи, S. 109, 111 (Route Dubno-Radyviliv); Орлов 1820 – Почт-словарь российского государства, S. 354 (Route Kremenec’-Radyviliv); Пядышев 1822 – Географический атлас Российской империи.

19 Für den zu Bronners Zeit aktuellen Stand: Allgemeines Post- und Reise-Handbuch 1816, S. 203–204; dann 1819: Siegmeyer 1819 – Allgemeines Post-Reise-Buch und vollständiger Meilenzeiger, S. 654 (südliche Route Krakau-Brody); aber auch S. 516 (von Brünn aus vor Lemberg nördliche Route) und 527 (von Lemberg nach Brody ebenfalls nördliche Route).

 

 

Literaturverzeichnis:

Allgemeines Post- und Reise-Handbuch durch Deutschland, Frankreich … Nürnberg 1805.

Allgemeines Post- und Reise-Handbuch für Deutschland, Frankreich, die Schweiz, Italien, Spanien, Großbritannien, die nordischen Reiche und einige andere Länder. nebst einem alphabetischen Ortsverzeichniss, vermittelst dessen alle Postrouten der vorzüglichsten Orte in Europa, deren Lage, Bevölkerung, Merkwürdigkeiten und Gasthöfe sogleich zu finden sind. Dritte nach den neusten Quellen durchaus umgearbeitete Auflage. Nürnberg 1816.

Mantelsack, in: Johann Georg Krünitz (Hg.): Oekonomische Encyklopädie oder allgemeines System der Staats-, Stadt-, Haus- u. Landwirthschaft in alphabetischer Ordnung. 1773–1858.

Postes de Russie, à l’usage des étrangers. Moscou 1805.

Дом Л. Вебера – Дом Г. Э. Боссе – Дом Общества страхования от огня, Эклектика, Невский пр., 5, in: Citywalls. Архитектурный сайт Санкт-Петербурга (05.09.2025). https://www.citywalls.ru/house1593.html.

Дорожная Карта Российской Империи. Всем почтовым и проселочным проезжим дорогам способным для кратчайшего проезда всякому вообще, а паче нужным для провозу товаров торгующему купечеству и прочим промышленникам. Сочинена в 1809 году. 1809.

Bernoulli, Johann, III.: Johann Bernoulli’s, der königl. Akademie der Wissenschaften zu Berlin, und anderer gelehrten Gesellschaften, Mitgliedes, Reisen durch Brandenburg, Pommern, Preußen, Curland, Rußland und Pohlen. In den Jahren 1777 und 1778. Bd. 3. Reise von Danzig nach Königsberg, und von da nach Petersburg, im Jahr 1778. Leipzig 1779.

Dalton, Hermann: Johannes von Muralt. Eine Pädagogen- und Pastoren-Gestalt der Schweiz und Rußlands aus der ersten Hälfte des XIX. Jahrhunderts. Gezeichnet von Hermann Dalton. Wiesbaden 1876.

Feller-Vest, Veronika: Weber, Leonhard, in: Historisches Lexikon der Schweiz (10.11.2014). http://www.hls-dhs-dss.ch/textes/d/D29309.php.

Fick, Johann Christian: Neues Handbuch für Reisende jeder Gattung durch Deutschland und die angränzenden Länder oder der treue Führer auf allen deutschen und den Hauptstrassen der benachbahrten Länder von Dr. Joh. Christ. Fick. Nebst einer großen Postkarte. Nürnberg 1809.

Hasler, Kurt: Die ehemalige Schiffahrt auf der Aare, in: Oltner Neujahrsblätter 35 (1977), S. 62–68.

Kubly-Müller, Johann J. (Hg.): Die Jenny-Familien im Kanton Glarus. Auszug aus seinem Genealogiewerk im glarnerischen Landesarchiv. – 1929.

Lorck-Schierning, Andreas: Die Chronik der Familie Lorck. Schicksale und Genealogie einer Flensburger Kaufmannsfamilie aus vier Jahrhunderten. Neumünster 1949. = Schriften der Gesellschaft für Flensburger Stadtgeschichte; 7.

Pētersone, Pārsla: Hercogistes pasta ceļš Skrunda–Kuldīga–Ventspils un tā uzturētāji. 1685–1795, in: Latvijas Arhīvi (2011), Nr. 3, S. 144–193.

Pētersone, Pārsla: Hercogs Ernsts Johans Bīrons un 1739. gada Kuryemes past reforma, in: Latvijas Arhīvi (2003), Nr. 1, S. 31–57.

Rauber, Urs: Schweizer Industrie in Russland. Ein Beitrag zur Geschichte der industriellen Emigration, des Kapitalexportes und des Handels der Schweiz mit dem Zarenreich (1760–1917). Zürich 1985. = Beiträge zur Geschichte der Russlandschweizer; 2.

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Sembritzki, Johannes: Geschichte des Kreises Memel. Festgabe zum Andenken an die 34jährige Verwaltung des Kreises durch Geheimen Reg.-Rat Cranz. Memel 1918.

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Wegner, Alexander: Geschichte der Stadt Libau. Mit 4 Plänen. Libau 1898.

Вистицкий, Михаил Степанович: Указатель дорог Российской Империи, содержащий в себе: описание всех главных и побочных почтовых и других проезжих дорог, ведущих от обеих столиц к губернским и соединяющих означенные между собою и уездными. в 3-х частях. 1804.

Высоцкий, Иван Петрович: С.-Петербургская столичная полиция и градоначальство. 1793–1903. Санкт-Петербург 1903.

Орлов, Павел: Почт-словарь российского государства, описывающий все почтовые тракты и большие проезжие дороги, соединяющие между собой все города империи и присоединенных к оной областей: Белостокской, Грузии, Бессарабии, Новой Финляндии, Царства Польского. Санкт-Петербург 1820.

Пядышев, Василий Петрович: Географический атлас Российской империи, Царства Польского и Великого Княжества Финляндского. расположенный по губерниям на двух языках. Санкт-Петербург 1822.

Пядышев, Василий Петрович: Путеводитель по всей Российской Империи и Царству Польскому. Содержащий в себе описание по всем почтовым дорогам от станции до станции, а по большим проезжим,  способным для кратчайшаго проезда и прохождения войск, от селения до селения расстояние верст. Расположенное в каждой губернии особо. С присовокуплением маршрутов от обеих карт: Европейской и Азиатской России, с означением на оных от города до города расстояния верст, столиц, до дальнейших губернских и уездных городов; описание платы прогонных денег, и двух генеральных. Санкт-Петербург 1818–1820.

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