Franz Xaver Bronners Reise: Ein Blick auf die Verkehrsmittel

Franz Xaver Bronners Reise von Aarau in der Schweiz nach Kazan an der Wolga dauerte vom 15. Juli bis 22. Oktober 1810. Sie führte über St. Petersburg, wo Bronner sich beim Kurator der Universität melden musste und von diesem Tag an sein Gehalt bekam. In St. Petersburg weilte Bronner vom 12. bis zum 21. September 1810.
Zur Rückreise brach Bronner am 26. September 1817 in Kazan auf; diesmal konnte er den zumindest in der Luftlinie kürzeren Weg über Moskau, die Ukraine, Wien und München wählen. Am 15. Dezember 1817 traf er in Zürich ein, wo der Bericht endet.
Die vielen Farben, mit denen der Reiseweg gekennzeichnet ist, geben eine Vorstellung von der Unterschiedlichkeit der Verkehrsmittel, die für eine solche Reise benutzt wurden.
Die Vielfalt darf aber nicht darüber hinwegtäuschen, dass stets zwei Verkehrssysteme im Mittelpunkt standen, nämlich einerseits die Postinfrastruktur und andererseits der Wasserweg. Der seit Jahrhunderten wichtigste Weg von Deutschland nach Russland verlief über die Ostsee, von Hamburg oder Kiel nach Riga, später nach St. Petersburg. Er dauerte etwa drei Wochen. Wegen der Operationen der britische Flotte in der Ostsee zog Bronner ihn allerdings nicht in Betracht; dafür dauerte seine Reise von Berlin nach St. Petersburg 38 Tage. Bronners Gepäck wurde von miteinander kooperierenden Speditionen nicht nur hinwärts ebenfalls, und zwar offenbar auf Landweg, über das Baltikum und St. Petersburg transportiert, sondern auch auf dem Rückweg, von Kazan über Moskau nach St. Petersburg und dann vermutlich über die Ostsee, wo die Schifffahrt 1817 wieder ungehindert möglich war. Dies zeigt, dass Bronner mit dem „direkten“ Landweg für die Heimfahrt vielleicht gar nicht die schnellste und billigste Möglichkeit wählte.
Für den ersten Abschnitt der Reise von Aarau bis Basel mietete Bronner einen Wagen mit Kutscher, weil er unterwegs noch seinen Freund Caspar Tobler besuchen wollte, der damals Pfarrer in Maschwanden war, und in Zürich seine Angebetete Küngold Tobler, die ihm allerdings einen Korb gab. Schuld daran dürften ihr Bruder Caspar und dessen Frau gewesen sein, denn in den wohlbestallten Schweizer Eliten war unter dem Einfluss des wachsenden Patriotismus die Haltung zur früher sehr verbreiteten Auswanderung immer ablehnender geworden.
In Basel wollte Bronner eigentlich den Postwagen nach Frankfurt am Main nehmen. Er verpasst ihn aber und schloss sich einem dänischen Baron als Mitfahrer in einem gemieteten „Glaswagen“ an.
Frankfurt war für Bronners Kontakte einer der wichtigsten Orte der Reise: Der Bankier Bethmann, bei dem er einen russischen Wechsel einlöste, lud ihn zu einem Essen ins Haus seiner Mutter ein, wo Bronner u.a. die Tochter und den Schwiegersohn des russischen Ministers für Volksaufklärung Razumovskij traf.
Der Fahrer des „Glaswagens“ stammte aus Leipzig und bot Bronner in Frankfurt gerne die Weiterfahrt an. Ein von Anfang an geplanter Zwischenhalt fand in Weimar statt: Der auch literarisch ambitionierte Bronner wollte die Meinung von Goethe (der jedoch nicht zu Hause war) und von Wieland zu seinem kürzlich erschienenen epischen Werk „Der letzte Krieg“ hören. Mindestens ebenso wichtig war ihm aber Wielands Tochter Karoline Maria Friederike, verwitwete Schorcht (1770 bis 1851), die er Mitte der 1790er Jahre in Zürich kennengelernt hatte: Gerne wäre er ordentlich beweibt nach Kazan gekommen, wie es auch den Angaben im versprochenen Pass entsprach, den ihm der Kurator aus St. Petersburg nach Memel übersenden wollte. Die kühlen Äußerungen von Vater Wieland über „Den ersten Krieg“ verdarben aber allerseits die Stimmung; außerdem störten überraschend auftauchende Gäste. Sehr einfach wäre es mit der Heirat von Frau Schorcht auch nicht gewesen, denn sie hatte zwei Töchter m Alter von 18 und 20 Jahren, für die es auf dem Heiratsmarkt der Provinzstadt Kazan sehr eng geworden wäre. Eigentlich wäre nur die überschaubare Gruppe deutscher Professoren dort in Frage gekommen – und die hätten erst einmal Witwer werden müssen.
Auch in Leipzig fand Bronner wieder einen „Glaswagen“ bis nach Berlin.
Danach wurde das Fahren unbequem: Preußen war nach dem verlorenen Krieg gegen Napoleon verarmt; das Verhalten der Staatsdiener spottete allen Vorstellungen von preußischer Korrektheit. In der Postkutsche saßen lärmende Soldaten, die sich auch sonst sehr schlecht benahmen. Deswegen wählten Bronner und einige Mitreisende immer wieder zwischendurch die „Extrapost“, bei der man Postpferde bekam, aber sich um den Wagen selbst kümmern musste. Oft genug waren das sehr einfache Fuhrwerke ohne Federung und ohne Verdeck. Auch die Verpflegung in den Gasthöfen war gelegentlich dürftig. In den ehemals polnischen Gebieten fielen Bronner die rasant fahrenden polnischen Kutscher auf – ein Phänomen das ihm in Russland dann noch öfter begegnen sollte. So ging es bis Königsberg, wo Bronner zum ersten Mal im Leben das Meer und große Schiffe sah.
Von Königsberg transportierte ein Kutscher Reisende gruppenweise nach Schaken, von wo es mit dem Schiff über das Kurische Haff nach Memel (Klaipėda) ging, der letzten Stadt in Preußen. Dort folgte erneut ein längerer Aufenthalt. Zum einen musste Bronner auf den Pass aus St. Petersburg warten, und noch länger verzögerte sich die Ankunft eines Pakets mit seinem Uniformstoff, das er an der sächsisch-preußischen Grenze bei der Post hatte aufgeben müssen. Eigentlich hatte man dafür Zoll verlangen wollen. Immerhin bequemten sich aber die korrupten preußischen Beamten dazu, den Unterschied zwischen Import- und Transfergütern anzuerkennen.
In Memel machte Bronner auch erstmals Bekanntschaft mit einem russischen Fahrzeug, der „kibitka“, in der Sprache der Russlanddeutschen „Kibitchen“, einem meist kleinen, gedeckten Gefährt. Damit ging die Reise bis Riga.
In Russland funktionierte die Post damals nach dem Prinzip Extrapost. Man musste sich also selbst um das Fahrzeug und den Kutscher kümmern, erhielt aber an den Poststationen Pferde – in Abhängigkeit von Stand, Status und Trinkgeld. Weil gerade die Kaiserin mit großem Gefolge durchgezogen war, bekamen Bronner und ein Reisegefährte jetzt überhaupt nur schwer Pferde. Dies bedingte auf der Reise bis St. Petersburg noch einige Wechsel des Transportmittels.
St. Petersburg war eine Stadt von einer Größe und Weitläufigkeit, die Bronners Vorstellungskraft und Orientierungssinn überforderten. Außerdem fühlte er sich erstmals hilflos wegen seiner fehlenden Sprachkenntnisse. Bronner traf in St. Petersburg unter anderem den Konferenzsekretär der Akademie der Wissenschaften Nikolaus Fuss, einen Schweizer und Schwiegersohn Leonhard Eulers. Der Minister für Volksbildung fühlte sich „unpässlich“; da half auch das in Frankfurt erhaltene Empfehlungsschreiben des Schwiegersohns nicht. Der Kurator Rumovskij erschien Bronner als ein Mann ohne Rückgrat, weil er ihm trotz mehrmaliger Vorsprache nicht zusagen wollte, dass das Ministerium die Mehrkosten für den Transport des Gepäcks bis Kazan übernahm.
Die Reise von St. Petersburg bis Kazan wollte Bronner eigentlich mit einem Schweizer Kaufmann namens (Fridolin) Jenni von Anfang an auf dem Wasser zurücklegen. Jenni betrieb damals die Vermittlung von alkoholischen Getränken aus St. Petersburg nach Kazan, wo er lebte. Die Boote fuhren über kleinere und kleine Flüsse zunächst aufwärts bis zur Wasserscheide und Trage- bzw. Schleppstelle, die sich östlich von Tichvin befand, anschließend abwärts bis zur Wolga, in Gegenrichtung zum viel umfangreicheren Getreidetransport aus dem fruchtbaren Wolgagebiet in die Hauptstadt mit ihrem ausgesprochen mageren Umland.
Wegen der sich hinziehenden Verhandlungen mit dem Kurator Rumovskij fuhr Jenni schon voraus, um noch vor dem Winter nach Kazan zu kommen, und Bronner musste mit Mietwagen und Postpferden hinterherreisen. Er traf Jenni in Tichvin, wo gerade ein Kanal zur Überwindung der Wasserscheide gebaut wurde, und beide erreichten die zwei Boote erst weiter östlich, wo die Gewässer schon in Richtung Wolga flossen. Bronner wurde auf dieser Landstrecke von den Kutschern gnadenlos bestohlen. Ein Professor war im Russland des Jahres 1810 eben kein „Herr“. Selbst Jenni schätzte die Situation falsch ein und wurde gegenüber einem Fuhrmann gewalttätig, woraufhin das ganze Dorf eine drohende Haltung einnahm.
Das Boot, mit dem die Fahrt bis Kazan fortgesetzt wurde, beschreibt Bronner folgendermaßen:
„Herr Jenni hatte zwey Lodki (Nachen) beladen, und auf dem einen Schiffe ein artiges Verdeck (Häuschen) [errichtet,] das mit Zinofka und Ragoschen (Bastgeflechten) dreyfach bedeckt war, so daß wir darunter bequem schlafen konnten. Jedem ward die Schlafstelle angewiesen. Gegen die Schiffsspitze war das Häuschen geschlossen, gegen das Ende des Schiffes offen. Mein Plätzchen ward mir kurz aber hoch über Brettern am Vordertheile angewiesen. H. Jenni wählte die Stelle hinterwärts am Eingange, der Apotheker bekam den Platz gegenüber, und mitten im Schiffe, tiefer als mein Lager, sollte der mitreisende junge Buchbinderlehrling schlafen.“
Die Reisegesellschaft war offenbar rein deutschsprachig, nur die vier Ruderer und der Lotse waren Russen. Die weitere Fahrt verlief für Bronner weitgehend ohne Abenteuer und Gefahren, was man nicht von allen anderen Mitreisenden behaupten kann. Der Apotheker und der Buchbinderlehrling wollten nämlich kurz vor Kazan, der langen Bewegungslosigkeit auf dem Boot überdrüssig, ein längeres Stück Weges am Ufer zurücklegen und gerieten auf eine lange Landzunge, wo man sie nur mit Mühe wiederfand.
Über die Gründe für die Wahl des Rückwegs nach Aarau lässt sich Bronner nicht aus. Eine Fahrt wolgaaufwärts bis Rybinsk wäre möglich, aber viel langwieriger gewesen. Insofern ist es verständlich, dass er bis Moskau den Landweg wählte. Warum er dann nicht nach St. Petersburg weiterfuhr, sondern nach Süden abbog, wissen wir nicht.
Jedenfalls kaufte Bronner – verständlich genug nach den Erfahrungen der Herfahrt – in Kazan für die Reise einen Wagen, in dem er mit wechselnden Kutschern und meistens, aber nicht immer mit Postpferden bis zur österreichischen Grenze hinter Radziwiłłów (Radyvyliv) gelangte. Gleich in der ersten österreichischen Stadt, Brody, verkaufte er den Wagen und benutzte im Weiteren nur noch Mietkutschen samt Pferden.
Die Überschreitung der Grenzen nach Österreich ist ein Lehrstück in Korruption: Der jüdische Wirt in Radziwiłłów bot Bronner seine Dienste an, um den russischen Ausfuhrzoll auf mitgeführtes Bargeld zu vermeiden. Unter Bauchschmerzen willigte Bronner ein. Der Wirt trug an der Grenze die Geldsäcke bei sich und lotste Bronner, ohne dass dieser aussteigen musste, unter Verteilung von jeder Menge Münzen, nach festgelegtem Plan, durch mehrere aufeinanderfolgende Posten.
Mehrtägige Aufenthalte hatte Bronner auf dem Heimweg in Kiew, Lemberg, Wien und München. In seinem Heimatstädtchen Höchstädt an der Donau weilte er nur einen Nachmittag, traf dort aber eine Menge Verwandte und Bekannte, bewirtete sie im Gasthaus, verteilte Geld an alle, die es nötig zu haben schienen, und das waren nicht wenige. Der Sohn eines bitterarmen Landhandwerkers kam in seinem sechzigsten Lebensjahr als gemachter Mann zurück. In Deutschland war ein Professor nun einmal jemand.
Von Zürich aus machte Bronner einen Abstecher nach Stäfa am Zürchersee, wo sein Freund Caspar Tobler jetzt Pfarrer war. Bronners einstige Liebe Küngold war zu dem dortigen Treffen der Schönen und Erfolgreichen nicht eingeladen. Sie hatte ihre Mutter gepflegt, sie hatte danach im Haushalt ihres Bruders gelebt und sich dort offenbar um die Kinder gekümmert. Jetzt wohnte sie abgeschoben in Zürich in einer Art privat organisiertem Altersheim zusammen mit anderen armen Verwandten der Toblers. Bronner besuchte sie am folgenden Tag. Der Bericht endet mit dem Thema des ersten Satzes: „Seit vielen Jahren kannte ich ein gutes Mädchen…“. Nur ohne Happy End.